«Geträumt hab ich jede Nacht von dir»
Kammeroper nach einem Stoff von Paul Haller
von Michael Schneider und Andreas Neeser
1./3. Dezember 2003


Vier Mundartgedichte von Paul Haller
gelesen von
Walter Sigi Arnold
Carol Blanc
Vreni Cathomas
Dodo Deér

Lesung des Librettos
Es lesen
Walter Sigi Arnold (Bernhard Huber)
Carol Blanc (Hanna Wirsch)
Vreni Cathomas (Alice Huber)
Dodo Deér (Urs Wirsch)

«Geträumt hab ich jede Nacht von dir»
Kammeroper für Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass, Kammerchor,
Kammerensemble und Elektronik (2003-)
von Michael Schneider (Musik) und Andreas Neeser (Libretto)

Liane Stalder Sperl, Sopran
Roswitha Müller, Mezzosopran
Hans Jürg Rickenbacher, Tenor
Ensemble Opera Nova Zürich
Michael Kühn, Englischhorn
Heinrich Mätzener, Bassetthorn
Florian Mohr, Viola
Christine Theus, Violoncello
Hans-Peter Achberger, Schlagzeug
Kammerchor Musica Vocalis Rara
Thomas Peter, Elektronik
Thomas Baldinger, Leitung
Adrian Meyer, Regie

Wenn die Liebe über alles hinauswächst
Die Handlung von «Geträumt hab ich jede Nacht von dir»

Wenn die Liebe über alles hinauswächst und in die äusserste Freiheit drängt. Wenn der Wind auf dem offenen Meer Gesichter in die Nacht schneidet. Ein einziger Klumpen Glück. Aber die Liebe ist nicht das Leben. Und Gott ist ein Kleinkrämer.

Wer seinem Gewissen vor wichtigen Entscheidungen Briefe schreibt und auf Antwort wartet, wird immer zu spät kommen. Wer die wenigen Gelegenheiten, die einem das Leben bietet, nicht nützt, wird für sein Zaudern bestraft.
Bernhard, der männliche Protagonist, ist einer dieser Zögerer, verstrickt in vielfältige Rollenkonflikte und damit weitgehend handlungsunfähig. Der Preis, den er für seine Unentschlossenheit in Liebesdingen bezahlt hat, ist hoch: Hanna, seine grosse Liebe, hat jahrelang auf seinen Entscheid für ein Leben mit ihr gewartet – und dann einen anderen genommen, ausgerechnet den reichen Wirt und Nachbar, ohne dessen Darlehen Roberts Eltern seinerzeit nicht hätten Eigenheimbesitzer werden können. Bernhard liebt weiter, natürlich, denn die wenigsten Zauderer lassen sich vom Leben belehren.
Für einmal aber scheint es das Leben selbst zu sein, das Bernhard eine zweite Chance gibt. Wegen der ungerechtfertigten Erhöhung des Schuldzinses, die Bernhard in existenzielle Schwierigkeiten bringen würde, kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. Der Wirt stürzt, schlägt mit dem Kopf auf einem harten Gegenstand auf und stirbt. Nach mehreren Wochen Untersuchungshaft kommt Bernhard als freier Mann zurück. Er hat mit Erfolg – aber wider besseren Wissens – geleugnet, den Nachbarn mit Absicht zu Fall gebracht zu haben. Auch Hanna hat vor Gericht eine Falschaussage gemacht und Bernhard damit vor einer Gefängnisstrafe bewahrt. Aus Liebe. Hier beginnt Hannas Weg in die Radikalität: Jenseits von allen moralischen, gesellschaftlichen und religiösen Normen kämpft sie um die äusserste Freiheit, das absolute Recht ihrer Liebe, und sie ist sogar bereit, ihre Kinder dafür herzugeben. Es ist ein verzweifelter Kampf und ein aussichtsloser, denn Bernhard zaudert auch (oder gerade) jetzt, da der Weg in ein gemeinsames Leben frei ist.
Dann aber entscheidet er sich doch: gegen Hanna.


Bericht in der Aargauer Zeitung
27. November 2003
Interview von Rahel Plüss

«Warum soll man krampfhaft originell sein?»
Andreas Neeser und Michael Schneider wollen dem Brugger Dichter Paul Haller (1882-1920) zu neuer Aufmerksamkeit verhelfen. Ihre Oper «Geträumt hab ich jede Nacht von dir» wird kommende Woche in Aarau teiluraufgeführt. Andreas Neeser spricht über das Konzept und seine Liebe zu Hallers Schaffen.

Herr Neeser, wie kommen Sie dazu, das Mundartstück «Marie und Robert» von Paul Haller als Basisstoff für eine Oper zu verwenden?
Andreas Neeser: Was den Komponisten Michael Schneider und mich verbindet, ist die Liebe zu Paul Haller und zu seinen Mundarttexten. Paul Haller ist einer, der wie Robert Walser lange Zeit zu Unrecht in der Versenkung verschwunden war. Nur hatte ihn ein anderes Schicksal ereilt als Walser. Haller ist nicht wieder hervorgeholt worden, sondern ist vergessen geblieben.


Was fasziniert Sie an Haller?
Neeser: Uns beeindruckt vor allem die unglaubliche Kraft der Bilder in Hallers Mundart-Texten. In ihnen steckt eine unglaubliche Anschaulichkeit und Ausdrucksstärke. Haller ist unendlich weit entfernt von platter Mundartdichtung mit Geranien vor dem Fenster.


Zurück zum Stück. Worum geht es und wie haben Sie es umgesetzt?
Neeser: Die Geschichte «Marie und Robert» dient als Basis für mein Libretto. Haller hat das Theaterstück 1915 geschrieben. Deshalb ist es stark im Zeitgeist der 1910er-Jahre verhaftet. Es thematisiert die Arbeiterproblematik, den Alkoholismus und die Kungeleien im dörflichen Rahmen. Die Hauptfigur ist zum Beispiel gleichzeitig Wirt, Grossrat und Hauptmann, hat also einen entsprechend hohen Sozialstatus. Das ist heute nicht mehr so. Deshalb habe ich das Stück unmöglich einfach telquel übersetzen und die ganze Handlung beibehalten können.


Was haben Sie denn anders akzentuiert als Haller?
Neeser: Ich habe das Stück nicht bloss aktualisiert, sondern neu geschrieben, auf einzelne Figuren und Handlungsstränge verzichtet, anderes (etwa einen Chor) eingefügt und die Liebesgeschichte inhaltlich stark ausgebaut. Diese Liebesgeschichte geht jedem unter die Haut. Diese Absolutheit. Die Frau ist bereit, für diese Liebe sämtliche Normen zu sprengen und alles aufzugeben. Er hingegen ist der ewige Zögerer, der in so viele Rollenkonflikte verstrickt ist, dass er handlungsunfähig wird und so alles zum Platzen bringt. Dieser Inha lt hat auch heute noch enorme Sprengkraft.


Warum haben Sie das Theaterstück für die Oper ins Hochdeutsche übersetzt?
Neeser: Die Wirkung von Mundarttexten kann nur eine regionale sein. Wenn wir Haller einer grösseren Öffentlichkeit ins Bewusstsein rufen wollen, geht das nur über einen hochdeutschen Text.


Welche Schwierigkeiten ergaben sich bei der Übersetzung?
Neeser: Es war mir von Anfang an klar, dass ich keine Übersetzung machen will und auch nicht kann. Die Kraft von Hallers Bildern lebt ganz stark von der Mundart, und das kann man unmöglich ins Hochddeutsche übertragen. Darum habe ich es gar nicht erst versucht. Ich habe mich darauf beschränkt, einige der Haller-Bilder aufzugreifen und eine eigene, hochdeutsche Bildsprache zu entwickeln.


In ihrem Libretto haben die Figuren auch andere Namen. Warum?
Neeser: Es sind nicht mehr Hallers Figuren - wenn sie ihnen auch zuinnerst noch verwandt sind. Der ehemalige Robert heisst jetzt Bernhard. Er ist noch immer der Zögerer. Seiner Mutter hingegen habe ich eine völlig andere Persönlichkeit gegeben. Alles ist zugespitzt auf die Liebesthematik.


Ist diese Liebesthematik nicht etwas zu klassisch für eine moderne Oper?
Neeser: Worum dreht sich alles im Leben, wenn nicht um die Liebe?


Es gibt doch sicher Stimmen, die etwas Ultramodernes erwarten?
Neeser: Uns geht es ja in erster Linie um Haller. Darum haben wir uns auch entschieden, die Chronologie der Ereignisse beizubehalten. Das mag konventionell sein. Doch warum soll man krampfhaft originell sein, wenn der Stoff so genial ist, die Handlungsspirale so zwingend? Es geht darum, eine adäquate Lösung für einen Stoff zu finden - alles andere ist nebensächlich.


Weshalb gibt es eine konzertante Teiluraufführung?
Neeser: Wir sind mitten im Entstehungsprozess und möchten die Leute auf unsere Arbeit aufmerksam machen. Michael Schneider hat auch erst 30 Minuten Musik geschrieben. Daran hat er aber mehr als ein halbes Jahr gearbeitet und es ist gerade mal ein Viertel des ganzen Stücks. Wir haben den Anspruch, die fertige Oper auf einer grossen Bühne zur Aufführung zu bringen - szenisch, und nicht nur konzertant. Deshalb wird im Kultur- und Kongresshaus eine Demoaufnahme gemacht. Der Abend soll auch für uns eine Standortbestimmung sein. Und wir hoffen, dass die Leute kommen. Wegen Haller.


Live Interview
von Marianne Koller

Herztöne aus dem Spinnennetz
Michael Schneider (Komposition) und Andreas Neeser (Libretto) präsentieren die ersten dreissig Minuten ihrer Kammeroper «Geträumt hab ich jede Nacht von dir» nach einem Stoff des Brugger Dichters Paul Haller. Das Live unterhielt sich mit den beiden über Verstrickungen, Sehnsüchte und Spinnen.

Was macht für Sie ein gutes Libretto aus?
Andreas Neeser: Ich finde ein Libretto gut, wenn Emotionen drinstecken und Bildwelten, die den Komponisten inspirieren. Hallers «Marie und Robert» handelt von Liebe, Verrat und Mord und zeigt Figuren, deren Schicksale unauflöslich miteinander verstrickt sind und unausweichlich auf ein tragisches Ende hinsteuern.
Michael Schneider: Als ich das Libretto las, spürte ich, dass dieser Sog, der dramaturgisch keinen Unterbruch duldet, musikalisch eine Prägnanz der Mittel erfordert. Das kommt meiner Kompositionsweise entgegen. Ich mag kompakte Sachen.


Wie sind Sie bei der Komposition vorgegangen?
Schneider: Ich versuche, für jedes Stück eine Form- und eine Musiksprache zu entwickeln, die sich aus dem Stoff heraus ergeben. Sie helfen mir, das Ganze zu strukturieren. Im vorliegenden Fall bin ich auf die Metapher des Spinnennetzes gestossen. Dazu inspirierte mich das Zitat zu Beginn des Librettos: «Der Tod ist eine Spinne, die Fäden sind Stricke, die Maschen sind eng, doch ersticken kann man so nicht.» So hab ich mich zum ersten Mal in meinem Leben damit auseinander gesetzt, wie die Kreuzspinne ihr Netz spinnt.


Wie äussert sich das denn in der Komposition?
Schneider: Es kommen vier Singstimmen vor. Jede hat ihr Netzzentrum, das aus dem Ton des Anfangsbuchstabens des Namens der Figur besteht. Wie sich die Töne entwickeln, richtet sich nach dem Bauprinzip des Radnetzes der Kreuzspinne. Bei der Instrumentalmusik habe ich ebenfalls das Netzbauprinzip verfolgt.


Welche Instrumente kommen zum Einsatz?
Schneider: Da es sich um ein Sehnsuchtsdrama handelt, habe ich Instrumente genommen, deren Klangfarbe entsprechend konnotiert ist. Das Englischhorn ist melancholisch grundiert, das Bassetthorn liefert einen seidenen Schimmer, hinzu kommen Bratsche und Cello, sowie ein Perkussionist. Ganz speziell sind die Herztöne der Singenden, die bei der Teiluraufführung ab Band ertönen. Falls jemals die ganze Oper, die eine gute Stunde dauern würde, aufgeführt wird, sollen diese Herztöne live erklingen.


Glauben Sie, dass es jemals zu einer Gesamturaufführung und eventuell gar zu einer szenischen Aufführung kommen wird?
Schneider: Ich hoffe schon. Das Libretto ist ja fertig. Aber eine ganze Oper innert weniger Monate neben einem Brotberuf zu komponieren, ist unmöglich.
Neeser: An unserer Teiluraufführung nehmen wir eine CD auf, die wir an verschiedene Opernhäuser schicken werden. Es wäre schon sehr motivierend, wenn sich die Möglichkeit abzeichnen würde, dass wir in absehbarer Zeit an einem etablierten Haus mit einer Aufführung rechnen könnten.


Bericht in der Aargauer Zeitung, Kultur
3. Dezember 2003
von Tobias Gerosa

Vielversprechendes Fragment
Klangnovember Teiluraufführung einer Kammeroper in Aarau

Fast ganz «made im Aargau»: Zum Abschluss des Aarauer Klangnovembers präsentiert der Gong die Teiluraufführung der Oper «Geträumt hab ich jede Nacht von dir» von Andreas Neeser (Text) und Michael Schneider (Musik). Ein spannendes Unternehmen, das den Saal 2 des Kultur- und Kongresszentrums Aarau am Montag fast zu füllen vermochte.
Fertig ist die Kammeroper des Aarauer Komponisten Michael Schneider noch nicht. Nach dem nun uraufgeführten ersten Teil, nach knapp dreissig von etwa 75 geplanten Minuten, klingt das «Work in Progress» allerdings schon vielversprechend. Das Orchester ist sehr klein besetzt. Mit einem Englischhorn, einem Bassetthorn, einer Viola und einem Cello sind vier ausgesprochen warm timbrierte Instrumente eingesetzt. Mit viel Flageolett und Überblasen ballen sich ihre Klänge wolkenartig zu einem dichten und farbigen Geflecht. Es sind die deklamierenden Singstimmen - auch des kommentierenden Chores, der vier Gedichte Paul Hallers einbringt (eine anspruchsvolle Aufgabe für den klein besetzten Kammerchor Musica Vocalis Rara) - und das Schlagwerk, welche die Partitur rhythmisch strukturieren.
Glöckchen, Donnerblech und elektronisch eingespielte Herzschläge sorgen für klanglichen Kontrast. Mit dem Ensemble Opera Nova, dem Spezialensemble für neue Musik, das aus dem Zürcher Opernorchester entstand, engagierten sich dafür ausgezeichnete Kräfte. Komponist Schneider selber spricht davon, dass er sich bei der Komposition an die Metapher des Spinnennetzes, die am Anfang des Librettos eine wichtige Funktion hat, gehalten habe: «Der Tod ist eine Spinne, die Fäden sind Stricke, die Maschen sind eng, doch ersticken darin kann man nicht.»
Damit nimmt er die Thematik des Librettos musikalisch auf, um die es hinter der äusserlichen und etwas vordergründigen Handlung geht: Einmal geworfen, sind die Flugfäden des Lebens nicht zurückzunehmen. Bernhard, gesungen vom Tenor Hans Jürg Rickenbacher, hat zu lange gewartet, Hanna seine Liebe zu gestehen. Auch mit 45 lebt er noch bei seiner Mutter Alice (Liane Stalder Sperl, Sopran). Längst hat Hanna (Mezzosopran Roswitha Müller) den vierschrötigen Wirt Wirsch geheiratet. Bernhard tötet ihn im Streit - ein Unfall, entscheidet das Gericht dank Hannas Aussage. Doch die Chance zum Liebesglück bleibt vertan.
Andreas Neeser, Leiter des «Müllerhauses» Lenzburg, ging für sein Libretto vom 1915 geschriebenen Mundartstück «Marie und Robert» des Bruggers Paul Haller aus und passte es der Zeit und den Bedürfnissen der Oper an. Das Libretto ist fertig und bei der Aarauer Aufführung von vier Schauspielern (Carol Blanc, Vreni Cathomas, Walter Sigi Arnold und Dodo Deér) gelesen auch ganz zu hören - und man ist ganz froh, dass noch Musik dazukommt. Denn die Haller nachempfundene Naturmetaphorik wirkt ohne sie etwas aufgeplustert. Doch auf die fertige Oper darf man gespannt sein.